Mario Merkle
über das Schöne 2
Aktualisiert: 28. Mai 2022
http://www.zeno.org/Kirchner-Michaelis-1907/A/schön
SCHÖN heißt im weiteren Sinne dasjenige, was unser geistiges Wohlgefallen erregt, ohne unsere Begierden zu reizen; es gefällt durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit, die Harmonie seiner Teile, durch seine scheinbare Zweckmäßigkeit, ohne daß es selbst für anderes direkt als Mittel diente. In ihm erscheint den höheren Sinnen erfaßbar das eigentümliche Innerste Wesen, der Dinge, befreit von den störenden Zufälligkeiten. Beim SCHÖNEN ist also die sinnliche Form durchaus von der geistigen Idee bestimmt. SCHÖN im engeren Sinne heißt die völlige Durchdringung des Geistigen und Sinnlichen; im Komischen dagegen wird das Geistige, vom Sinnlichen überragt, im Erhabenen das Sinnliche vom Geistigen; das Häßliche ist die rohe, geistverlassene Sinnlichkeit. Alles SCHÖNE erbebt den Menschen über sein persönliches Interesse zur Objektivität der Idee; denn diese tritt ihm im SCHÖNEN der Natur und der Kunst derartig entgegen, daß er zum selbst und willenlosen Betrachter wird. Der Sinn für das SCHÖNE heißt Geschmack. Der Geschmack findet das Schöne zunächst in der Natur vor. Das SCHÖNE der Natur ist die erste und vorbildliche Stufe der SCHÖNHEIT; die Kunst, die Fähigkeit, das SCHÖNE zu schaffen, sucht diese in bewußter Tätigkeit zu überbieten. Mit der Wissenschaft hat die Kunst gemein die Darstellung des Wesens der Dinge, der Wahrheit, nur daß die Wissenschaft diese begrifflich, die Kunst sie anschaulich darstellt. Auch idealisiert die Kunst das Natürliche, d.h. sie faßt das in der Wirklichkeit Zerstreute zusammen und legt andrerseits das Verworrene übersichtlich auseinander, erhöht, und veredelt sein Wesen. Die Wissenschaft vom Wesen des SCHÖNEN heißt Ästhetik. Da aber; die Idee des SCHÖNEN bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Zeiten gewechselt hat, so wechselt auch die Erscheinung des Schönen in den verschiedenen Zeiten. Deshalb hat die Ästhetik auch die Kunstgeschichte zu berücksichtigen und ihre eigene Methode empirisch zu gestalten, was sie nicht immer getan hat.
